„Die Not lehrt (nicht) das Beten!“ – Kulturorganisationen in Krisenzeiten
Impulsgeberin Karin Bjerregaard Schlüter reflektiert über ihre Erkenntnisse im Rahmen des Online-Moduls „Krisen_Kommunikation“ im Cultural Leadership-Stipendienprogramm 2023/24.
Mein Großvater war ein sehr frommer Christ, man könnte fast sagen ein religiöser Eiferer. Wenn ich mit meinen Brüdern bei ihm zu Besuch war, malte er uns mit großer Inbrunst verschiedene apokalyptische Szenarien aus, die aus seiner Sicht in der nächsten Zeit sicher auf uns zukommen würden. Als Vorbereitung predigte er uns das Einmachen von Obst – und noch wichtiger: das Beten. Was mir besonders in Erinnerung geblieben ist, sind ein vages Gefühl der Bedrohung, das von diesen Nachmittagen ausging, eine Vorliebe für Nachtische mit lauwarm gekochten Pflaumen und die innere Gewissheit, dass Menschen sich nicht gerne vorausschauend mit düsteren Prognosen beschäftigen. Noch weniger sind sie bereit, Strapazen und Ritualen zu folgen, von denen sie nicht sicher wissen können, ob diese die Lage zum Besseren wenden werden.
Wir Menschen haben in Bezug auf Krisenprävention zwei grundlegende Schwächen. Zum einen können wir uns die vielen möglichen Auswirkungen einer komplexen und vernetzten Welt oft nicht vorstellen. Zum anderen brauchen wir ein positives Bild, um wirklich motiviert und handlungsbereit zu sein. Angst lähmt unser Denken und führt zu Passivität.
Über dieses Dilemma und die Rolle, die agile Führung dabei spielen kann, habe ich gemeinsam mit Dr. Christina Ludwig, Direktorin des Stadtmuseums Dresden, zum Abschluss des Cultural Leadership-Stipendienprogramms am 8. Juli 2024 in einer Remote-Session gesprochen. Der Anlass war die Krise in der deutschen Kulturlandschaft.
Seit dem 7. Oktober 2023 scheinen sich deutsche Kulturorganisationen in einer Art Dauerkrise zu befinden. Museen, Theater, Bibliotheken und Hochschulen werden immer häufiger mit Boykotten, Skandalen und Absagen konfrontiert. Ihr Ansehen in der Öffentlichkeit sinkt, und sie werden in den sozialen Medien sowie in traditionellen Medien in einem bislang unbekannten Ausmaß kritisiert und beschuldigt. Ihnen wird Antisemitismus, Rassismus und andere Formen der Diskriminierung vorgeworfen – unabhängig davon, ob diese Vorwürfe im Einzelfall gerechtfertigt sind oder nicht. Sie hinterlassen Spuren und verändern das öffentliche Bild der Institutionen.
Kulturhäuser, die einst als moralisch integer galten, wirken plötzlich suspekt. Dies verändert auch die Selbstwahrnehmung der Organisation und ihrer Mitarbeitenden.
Alle Statusgruppen sind betroffen; es knirscht zwischen Leitungen, künstlerisch Verantwortlichen, Künstler*innen, Mitarbeitenden und dem Publikum. Es ist zunehmend schwieriger geworden, eine gemeinsame Perspektive auf den Auftrag der Institution und ihre Rolle in der Gesellschaft zu entwickeln. Die Schuld für dieses Chaos wird oft den Krisen der Welt zugeschrieben: Pandemie, Kriege, Terror, Populismus und die menschengemachten Naturkatastrophen bestimmen das Bild. Doch warum sind deutsche Kulturinstitutionen so anfällig für diese Spannungen?
Kultur ist die natürliche Arena identitätspolitischer Konflikte – weil es in diesen Konflikten nicht primär um ökonomische oder territoriale Fragen geht, sondern um kulturelle Zuschreibungen in den Kategorien „Rasse“, „Geschlecht“ und „Klasse“. Diese Konflikte gab es schon im 20. Jahrhundert, und seit den späten 1970er Jahren wurden verstärkt Theorien dazu entwickelt. Die Besonderheit der aktuellen Krise des Diskurses liegt jedoch in der Logik des Digitalen. Die mediale Öffentlichkeit hat im digitalen Zeitalter eine grundlegend andere Struktur als in der analogen Moderne. Früher fanden Debatten auf definierten Kanälen statt, die halbwegs überschaubar waren. Im Digitalen aber sind diese Kanäle komplex und voller Zufallseffekte. Organisationen, die früher nur „sendeten“, müssen heute auch „empfangen“. Diese Kommunikationsgewohnheit hat sich inzwischen auch auf alle analogen Bereiche übertragen. Alle, auch Menschen, die wenig auf sozialen Medien unterwegs sind, erwarten mittlerweile, dass ihre Stimmen gehört werden und Einfluss haben.
Diese Entwicklung hin zu mehr Offenheit und Dialog hat den täglichen Umgang verändert. Dies zeigt sich in allen Bereichen des Lebens: von der Art und Weise, wie wir zu Leseempfehlungen kommen, welche Filme und Serien wir schauen oder auch wie wir miteinander arbeiten und kommunizieren. In der Folge sind mit der Digitalisierung neue Führungsmethoden und Organisationsmodelle entstanden. Agile Leadership-Modelle, die seit rund zwei Jahrzehnten populär sind, verleihen jeder Person in einer Organisation eine Stimme und nutzen diese produktiv für die Arbeit. Auch in der Kreativwirtschaft und bei Kulturorganisationen haben die verschiedenen Bezugsgruppen – von Künstler*innen über Mitarbeitende bis hin zum Publikum – diese Erwartung entwickelt: Sie wollen beteiligt werden und ein hohes Maß an Teilhabe erleben.
Viele Kulturinstitutionen haben diesen Wandel jedoch nicht mitvollzogen. Oft sind sie Teil kommunaler oder regionaler Verwaltungen, die selbst mit der digitalen Transformation kämpfen. Die bürokratischen Strukturen und Vorgaben sind oft nicht kompatibel mit einer agilen, rollenbasierten Arbeitsweise. Die spezifischen Spannungen entstehen, da Kulturorganisationen auf der anderen Seite sehr international sind und Menschen aus aller Welt zusammenbringen, die aus ihrem Kontext höhere Erwartungen an Partizipation, Digitalisierung und Responsivität mitbringen.
Die daraus resultierenden Konflikte entstehen oft lange vor den für die Öffentlichkeit sichtbaren Skandalen. Sie beginnen mit einer gestörten Kommunikation zwischen den Institutionen und Einzelpersonen. Diese Streitigkeiten drehen sich häufig um das Thema Partizipation und die fehlende Anerkennung der Rolle und Sichtweisen von Einzelpersonen durch die Institution. Wir beobachten dabei, dass sich häufig dieselben zwei Fronten gegenüberstehen: Auf der einen Seite eine Institution, die für eine Vielzahl von gesellschaftlichen Aufgaben verantwortlich gemacht und zur Rechenschaft gezogen wird, und auf der anderen Seite Einzelpersonen oder Gruppen, die das Gefühl haben, nicht gehört oder gesehen zu werden.
Der Konflikt beginnt nicht selten damit, dass eine Person den Eindruck hat, ihre Identität oder Anliegen würden nicht ausreichend wahrgenommen oder angemessen in das gemeinsame Projekt eingebracht. Sie artikulieren ihre Kritik auf vielfältige Weise: per Mail, in Blogs, über Social-Media-Plattformen oder auch in Personalversammlungen und Planungsgesprächen.
Die erste Sollbruchstelle in der Kommunikation tritt auf, wenn diese Kritik von der Institution nicht wahrgenommen wird – oft, weil es an den notwendigen Tools wie Social Listening oder den passenden Workflows für den Austausch fehlt. Die klassische hierarchische Organisationsstruktur vieler Kulturhäuser bietet kaum Möglichkeiten, die Partizipation der unterschiedlichen Bezugsgruppen zu gewährleisten und zu fördern. In den klassischen Organisationsstrukturen wird in Funktionen und Positionen gedacht. In der digitalen Gesellschaft nehmen sich die Menschen jedoch als Individuen wahr, die ihre verschiedenen Fähigkeiten in unterschiedlichen Rollen ausleben. So hat sich in den vergangenen zehn Jahren das Bewusstsein für verschiedene Formen von Diskriminierung deutlich verstärkt. Begriffe wie Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Homo- und Transfeindlichkeit, aber auch Klassismus und Altersdiskriminierung sind mittlerweile fester Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses. Identität ist in der heutigen Zeit ein zentraler kultureller Bezugspunkt und die Grundlage vieler politischer Diskussionen. Wird keine angemessene Lösung gefunden, verschärft sich der Konflikt und kann bis hin zu drastischen Handlungen eskalieren.
Kulturorganisationen können diese kulturelle Sensibilität mit Methoden des Cultural Leadership in ruhigen Zeiten in ihre eigene Institution integrieren. Agile Führung setzt ein tiefes Verständnis für die Kultur, Werte und Überzeugungen der Organisation sowie aller beteiligten Personen voraus. In Krisenzeiten ist dieses kulturelle Verständnis entscheidend, um die richtigen Kommunikationsstrategien zu entwickeln.
Krisenkommunikation und Cultural Leadership sind eng miteinander verbunden, da beide Ansätze die Rolle von Werten, Vertrauen, Transparenz und kulturellem Verständnis in der Führung betonen.
Die zentralen Werte der agilen Führung sind kulturelle Sensibilität, der Aufbau von Vertrauen und Glaubwürdigkeit, die Förderung von Resilienz, die Kommunikation von Werten und die Anpassung an den kulturellen Kontext.
Mein Opa hat immer gesagt: „Die Not lehrt das Beten.“ Ich gebe ihm recht, wenn es um eilige Stoßgebete und schnell gemachte Versprechen geht. Aber eine langfristige Strategie entsteht aus kurzfristigem Reagieren nicht, sondern eher aus einem Gefühl, der Krise ausgeliefert zu sein und sich an jeden Hoffnungsschimmer zu klammen. Bewährt haben sich dagegen responsive Strukturen und positive Vision, die schon eingeführt und wirksam waren, bevor es zu Kommunikationsschwierigkeiten kommt.
Programm-Alumnus Joachim Bothe berichtet von seinen persönlichen Eindrücken und Erkenntnissen.
Programm-Alumna Regina Weidmann berichtet von ihren persönlichen Eindrücken.