Diversitätsentwicklung als Querschnittsaufgabe: Warum Cultural Leadership ohne Diversitätskompetenzen nicht funktioniert

Impulsgeberin Leyla Ercan reflektiert über ihre Erkenntnisse im Rahmen des Cultural Leadership-Stipendienprogramms 2023/24 und argumentiert dafür, Diversität in allen Kompetenzdimensionen von Cultural Leadership als Querschnittsthema mitzudenken.

Förderprogramme wie der „360°-Fonds neue Kulturen der Stadtgesellschaft“ der Kulturstiftung des Bundes, der „Diversitätsfonds NRW“ oder die „Diversitätsoffensive“ des Berliner Kultursenats zeigen: Diversitätsentwicklung und Inklusion stehen seit einigen Jahren im Kultursektor ganz oben auf der Agenda. Dabei werden Diversität und Inklusion im Kulturbereich nicht mehr nur als wünschenswerte Kann-Leistung, z.B. im Rahmen eines kleinen Begleitprojekts in der Vermittlungsabteilung, formuliert. Vielmehr setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass Kultureinrichtungen und -programme, die aus öffentlichen Geldern (d.h. den Steuern aller) finanziert werden, die Verantwortung und den Auftrag haben, für alle Menschen gleichermaßen Angebote zu machen und den Zugang zu Kultur zu ermöglichen. Denn kulturelle Teilhabe ist Grund- und Menschenrecht und Kultureinrichtungen sind gesetzlich dazu verpflichtet in den zentralen Handlungsfeldern Programm, Personal, Publikum für alle Menschen gleiche Chancen auf Teilhabe und Zugänglichkeit sicherzustellen. 

Führungskräfte im Kultursektor sind damit vor besondere Herausforderungen and Anforderungen gestellt. Denn, wie bei allen Transformations- und Change-Prozessen, ist auch Diversitätsentwicklung stets Führungsaufgabe. 

Diversitätsentwicklung ist kein temporäres Projekt, sondern ein dauerhafter Prozess

Im Rahmen des „Cultural Leadership“-Stipendienprogramms wurden schon in den ersten Modulen zentrale Fragen aufgeworfen: Welchen Stellenwert haben Diversität und Inklusion in Kultureinrichtungen? Welche Rolle spielen dabei Führungskräfte?  Warum braucht es für eine Cultural Leadership der Zukunft eine diversitätskompetente Leadership? Kann Cultural Leadership in einer sich stärker ausdifferenzierenden pluralistischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ohne fundierte Diversitätsmanagement und -kompetenzen überhaupt funktionieren?

Wie das 360°-Programm und ähnliche Förderprogramme gezeigt haben, sind „diversitäts-orientierte Transformationsprozesse tiefgreifend, komplex und langwierig“ [..] „und eine ganzheitliche Querschnittsaufgabe.“1 Denn Kultureinrichtungen sind in der Regel sehr komplexe Gefüge, über Jahrzehnte, gar Jahrhunderte gewachsene Organisationen: 

[…] mit ganz eigener Historie, verinnerlichten Traditionen und künstlerischen oder kulturellen Selbstverständnissen, mit komplexen und stark verankerten Strukturen und Produktions- und Arbeitsbedingungen, flankiert von bürokratischen Richtlinien, Fördervorgaben und kulturpolitischen Parametern. Diese Faktoren machen einen signifikanten Teil der Beharrungskräfte aus und sind bereits seit vielen Jahren Kernthemen der Debatten um die Struktur- und Legitimationskrise in Kultureinrichtungen.2

Eine Führungskraft, die Transformationsprozesse anstoßen und umsetzen möchte, muss sich zuallererst dieser „Werkseinstellung“ – der tief eingeschriebenen expliziten und impliziten strukturellen, institutionellen und kulturellen normativen Setzungen – der Organisation bewusst werden und diese kritisch zu hinterfragen wissen. 

Transformationsorientierte Cultural Leadership braucht Diversitätskompetenzen

Cultural Leadership weist über die Grenzen einer spezifischen Kultureinrichtung und über herkömmliche Vorstellungen von Führung hinaus, insbesondere in zwei Aspekten: Zum einen zeichnet sich Cultural Leadership durch eine stärkere Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung und den Wunsch nach Handlungswirksamkeit im sozialen Feld aus. Zum anderen birgt Cultural Leadership eine starke transformative Kraft, die in Wechselwirkung mit der Verantwortungsübernahme, aktiv gesellschaftliche Veränderung anzustoßen sucht. Kulturelle Praktiken und Strategien werden eingesetzt, um Innovation, Demokratie und Dialog in gesellschaftlichen Prozessen zu befördern. (Martin Zierold / Marlene Troidl)

Einer verantwortungs- und transformationsorientierte Cultural Leadership sollte im Kern das Ziel „Kultur für alle von allen“ (Henning Mohr) verfolgen und den Ansprüchen einer demographisch dynamischen und vielfältigen Gesellschaftsdemographie gerecht werden. Dies ist ohne Diversitätsentwicklungsansätze und entsprechende Kompetenzen kaum denk- und realisierbar. Diversitätskompetenzen sind deshalb dem Cultural Leadership-Anforderungsprofil als immanent zu betrachten und sollten in allen Phasen der Ausbildung als Querschnittskompetenz Berücksichtigung finden. Dies würde sich, wenn es als Mainstreaming gedacht wird, maßgeblich auf die Inhalte und das Stipendiat*innen-programm auswirken. So müssten die vier zentralen Entwicklungsfelder der Weiterbildung “Leading Self – Leading Collaboration – Leading Change – Leading the Concept” unter dem Vorzeichen von Diversitäts(entwicklungs-)kompetenzen konsequent durchdekliniert werden. 

Leading Self: Selbststeuerung und Selbstmanagement

Diversität fängt bei der Führungskraft an. Zahlreiche empirische Studien und Programm-evaluationen zeigen wiederholt: erst wenn Führungskräfte selbst Diversitätskompetenzen beherrschen, praktizieren und klare Haltungen und Werte authentisch vorleben (z.B. ihrer eigenen Vorurteile bewusst sind, diesen entgegenzuwirken wissen und Arbeitsumfelder schaffen, die Vorurteile abbauen und diskriminierungssensibel sind), zeigen sich die Mitarbeitenden bereit, den kulturellen Wandel “bottom up” mitzutragen und sich aktiv an diesem zu beteiligen.  Als diversitätskompetente Vorbilder leben Führungskräfte die Organisationskultur und -werte vor und setzen somit in ihrer Organisation oder in ihrem Team die Maßstäbe für den diversitätsgerechten Umgang mit Vielfalt.  Zu diesen Werten gehören insbesondere Fehlerfreundlichkeit, Kommunikationsbereitschaft, kritisches Vorurteils- und Machtbewusstsein, Fähigkeit zu kritischer Selbstreflexion und nicht zuletzt Konflikt- und Ambiguititätskompetenzen. Denn die Stärkung von Diversität und der Zuwachs an verschiedenen Perspektiven, Stimmen und Wissensbeständen in der Organisation oder im Team, erhöhen erfahrungsgemäß die kreativen Schaffenskräfte und den innovativen Output. Sie können aber gleichzeitig auch zu Konflikten führen, insbesondere wenn die Kultur des Miteinanders noch nicht diversitätsgerecht und inklusiv ist. Führungskräfte in diversitäts-orientierten Teams müssen daher entsprechende Kompetenzen mitbringen und aufbauen, um in diesen Situationen effektiv agieren zu können.

Leading Collaborations: Cultural Leadership als Beziehungsprozess begreifen und gestalten 

Diversitätsentwicklungsprozesse erfordern spezifische Arbeits- und Kommunikationsformen, bei denen die vielfältigen Stimmen und Perspektiven von Mitarbeitenden, Kooperations-partner*innen und Stakeholdern einbezogen werden. Diversitätssensible und -kompetente Führungskräfte erkennen und verstehen die vielfältigen Erfahrungen, Perspektiven und Fähigkeiten im Team und schätzen und fördern aktive Beteiligung und kollaborative Entscheidungsfindungen, weil diese eine multiperspektivische und differenzierte Meinungsbasis ermöglichen und zu Entscheidungen führen, die besser durchdacht sind von allen Teammitgliedern mitgetragen werden. Deshalb beteiligen diversitätssensibilisierte Führungskräfte ihr Team an Entscheidungsprozessen, in denen dies sinnvoll und angemessen ist, anstatt Entscheidungen autokratisch und im Alleingang zu treffen. Dies erfordert eine offene, transparente und wertschätzende Kommunikation. 

Diese grundsätzlich kollaborative Arbeitsweise und -haltung findet auch in der Zusammen-arbeit mit vielfältigen externen Partner*innen  Anwendung. Hier zeigt sich insbesondere in der Kooperation mit marginalisierten Gruppen, dass eine Verschiebung stattgefunden hat. Während z.B. in Kulturprojekten mit migrantischen Vereinen oder Gruppen früher eine temporäre und punktuelle Beteiligung einzelner Menschen ausreichend schien, fordern die MSOs und ermächtigten Akteur*innen einer normalisierten Migrationsgesellschaft weitreichendere und nachhaltigere Beteiligungsprozesse: es geht nicht mehr nur darum, „erreicht zu werden“ oder „dabei zu sein“, sondern um eine gleichberechtigte Ko-Kreation auf Augenhöhe, um Deutungshoheit und nachhaltige Gestaltungs- und Entscheidungsmacht.  

Cultural Leader in einer pluralistischen Gesellschaft sollten deshalb in der Lage sein, innerhalb und außerhalb ihrer Organisation diskriminierungs-, macht- und hegemonial-kritische Arbeitsbeziehungen und -kulturen zu leben und zu pflegen. Dies impliziert die Bereitschaft, in der Kooperation mit Menschen und Institutionen, sich selbst – individuell und institutionell – zu reflektieren und zugunsten diversitäts- und demokratieförderlicher Ermächtigungsprozesse von diversen Menschen und Gesellschaftsgruppen zurückzunehmen.

Leading Change: Veränderungsprozesse gestalten und leiten. 

Diversitätsentwicklung steht und fällt mit den Führungskräften. Sie entwickeln und kommunizieren nicht nur Diversitätsvisionen- und -strategien, sondern tragen einen wesentlichen Teil zur Umsetzung dazu bei. Als Hausleitungen sorgen sie dafür, dass die Strategien und Maßnahmen auch verstanden werden, sie kommunizieren überzeugend und haltungssicher den Prozess als chancenreiche Maßnahme an die Mitarbeitenden und multiplizieren und fördern sichtbar und verbindlich die Diversitätsthemen auf allen Ebenen und sorgen für die Umsetzung.  Dies bedeutet für Kulturinstitutionen eine Transformation „in Strukturen, Prozessen, Kommunikation. Notwendig für diesen Wandel sind Zeit, Personal, finanzielle Mittel, Bereitstellung von Infrastruktur und neues Wissen.“3

Transformationsprozesse, die die fundamentalen Strukturen von Kultureinrichtungen in Bewegung bringen, können – wie jedes Veränderungsvorhaben – auf Widerstände innerhalb der Organisation stoßen. Diese Widerstände folgen allerdings ganz spezifischen Veränderungskurven und – dynamiken und erfordern  spezifisches Wissen, Kompetenzen und Haltungen: Führungskräfte sollten die Wechselwirkungen zwischen fehlender Diversität in der Einrichtung, gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen und struktureller Diskriminierung und kulturinstitutionellen Ausschlussdynamiken kennen und um die Notwendigkeit und Spezifik von strukturellen und institutionellen Diversitätsstrategien in der Organisation wissen.  „Geschieht dies nicht oder wird der Prozess lediglich auf einer symbolischen Ebene unterstützt (bzw. auf untergeordnete Strukturen delegiert), wird der mit hoher Wahrscheinlichkeit keine nachhaltige Wirkung entfalten.“4

Leading the Concept: Diskurs über Cultural Leadership mitgestalten. 

Unter den teilnehmenden Stipendiat*innen wurde die zentrale Bedeutung von Diversität und Inklusion in Kultureinrichtungen sehr kontrovers diskutiert. Dabei herrschte Konsens, dass Cultural Leadership die Setzung von Diversität als Querschnittsaufgabe (gemäß Mainstreamingansatz) und eine diversitätsförderliche und -kompetente Führung voraussetzt. So wurde zum Ausdruck gebracht, dass der Diskurs über Cultural Leadership in der Gesellschaft und im Kultursektor, grundlegendes Diskurs- und Handlungswissen über Diversität erforderlich macht, wenn Kultureinrichtungen relevant und zukunftsfähig bleiben und Leader die Gesellschaft transformieren möchten. Der Grundtenor in den Diskussionen: „Wir wollen Diversitätsentwicklung!  Aber wir sehen auch, wie Diversitätsvorhaben in bestimmten Strukturen (wie z.B. Theaterbetrieben) regelmäßig an ihre Grenzen kommen oder gar scheitern? Wie machen wir es nun richtig?“  Es wurde erkannt, dass das Scheitern von Diversitätsvorhaben sehr stark von externen Bedingungen, z.B. Finanzierungs- und Förderstrukturen oder gesamtgesellschaftlichen Diskursen und Dynamiken (z.B. Rechtsruck, antidemokratische Kräfte, Wirtschaftskrisen, Kriege, Konflikte etc.) abhängig sind. Als Cultural Leader gilt es sich als aktive Kraft auf diese Dynamiken einzuwirken und wichtige Diskurse in die Gesellschaft und ins kulturpolitische Feld hineinzutragen und z.B. bei kulturpolitischen Entscheidungsträger*innen Veränderungen für Rahmenbedingungen und Förderprogrammatiken und -politiken anzustoßen.

Diversität ist kein kleines Puzzlestück, das nachträglich in ein bestehendes Führungskonzept hineingeklopft werden kann. Diversitätsstandards sollten in allen Handlungsfeldern der Cultural Leadership inklusiv mitgedacht werden, d.h. im Ganzen ein neues diversitätsgerechtes Puzzlebild von kulturell und gesellschaftlich verantwortungsbewusster, transformationsorientierter Leitung zeichnen. 

  1. Kulturstiftung des Bundes: Diversitätskompass. 2022. S. 37. ↩︎
  2. Ercan, Leyla. “It’s all about belonging.” Diversitätskompass. Kulturstiftung des Bundes. 2022. S. 11. ↩︎
  3. Kulturstiftung des Bundes. Diversitätskompass. 2022. S. 39. ↩︎
  4. Kulturstiftung des Bundes. Diversitätskompass. 2022. S. 38. ↩︎

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